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Titel
Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften


Autor(en)
Martus, Steffen; Spoerhase, Carlos
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft (2379)
Erschienen
Anzahl Seiten
658 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Désirée Schauz, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Geisteswissenschaften waren lange Zeit ein vernachlässigter Gegenstand der Wissenschaftsforschung. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Neugründungen wie die „Society for the History of the Humanities“ mit ihrer seit 2016 erscheinenden Zeitschrift „History of the Humanities“ lassen das Bemühen erkennen, Geschichte und Gegenwart der Geisteswissenschaften als neues Themenfeld zu etablieren. Zum einen ist dies auf das über die Disziplinen hinweg gewachsene Interesse an Wissensformen und -praktiken zurückzuführen. Zum anderen scheint der anhaltende Krisendiskurs in den Geisteswissenschaften gerade deren Vertreter:innen zu einer (Selbst-)Reflexion zu motivieren. Die Monografie der beiden Literaturwissenschaftler Steffen Martus und Carlos Spoerhase unterstreicht dieses aktuelle Bedürfnis, sich mit den eigenen Arbeitsformen auseinanderzusetzen. In ihrer Einleitung nehmen die Autoren ausführlich Bezug auf jüngste Krisendiskurse, wie sie etwa unter dem Hashtag „IchBinHanna“ zirkulierten (https://ichbinhanna.wordpress.com, 27.01.2023). Martus und Spoerhase zielen allerdings nicht auf eine Ursachenanalyse. Vielmehr möchten sie den Krisendiskursen mit ihrer Studie zur „Geistesarbeit“ die Vielfalt der geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis entgegenstellen und zeigen, was von ihr „unscheinbar geleistet wird“ (S. 482).

Ziel der Autoren ist es, das „in den Geisteswissenschaften selbst gepflegte Leitbild der einsamen Schreibtischarbeit“ (S. 11) mit Hilfe praxeologischer Ansätze zu korrigieren. Bei der Wahl der Quellen und der Methodik vertrauen sie auf das Bewährte ihrer Disziplin, die Analyse und Interpretation publizierter wie vor allem nicht publizierter Texte. Das Buch basiert im Wesentlichen auf Fallstudien zu den Literaturwissenschaftlern Peter Szondi (1929–1971) und Friedrich Sengle (1909–1994). Beide waren in den 1960er-Jahren profilierte Vertreter ihres Faches und hinterließen umfangreiche Nachlässe. Zugleich repräsentieren sie mit ihren Biografien sowie mit ihren literaturwissenschaftlichen Programmen und Arbeitsweisen durchaus unterschiedliche Forschertypen. Sengle war während der NS-Zeit Parteimitglied und Soldat; er vertrat ein literaturhistorisches Programm, das er in seinem Lebenswerk umsetzte: einer dreibändigen Literaturgeschichte der Biedermeierzeit. Der aus einer jüdischen Familie stammende Szondi, als Jugendlicher zeitweise in Bergen-Belsen inhaftiert, zählte dagegen zu den Verfolgten der NS-Herrschaft. Ab 1965 baute Szondi an der Freien Universität Berlin ein einflussreiches Institut für Komparatistik auf und vertrat mit seinen vergleichsweise schmalen Bänden zum modernen Drama und zum Tragischen einen theoretischen Zugang, der in mancherlei Hinsicht mit den Konventionen des Faches brach. Punktuell gehen Martus und Spoerhase über diese Fallstudien hinaus und ziehen auf der Grundlage vorhandener Literatur Vergleiche zu Vertretern anderer Fächer wie den Historikern Reinhart Koselleck (1923–2006) und Thomas Nipperdey (1927–1992) oder dem Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996).

In 35 jeweils zehn- bis fünfzehnseitigen Kapiteln werden grundlegende Praktiken der „Geistesarbeit“ behandelt – wie Lesen, Exzerpieren, Sammeln, „Problematisieren“ und „Theoretisieren“ als epistemische Strategien, Schreiben, verschiedene Formen der wissenschaftlichen Kommunikation wie Publizieren und Vortragen ebenso wie in Erweiterung des akademischen Alltags Praktiken des Begutachtens und der Vernetzung. Die Autoren gehen dabei den Praktiken in ihren verschiedenen situativen und institutionellen Kontexten nach (Institut, Lehrstuhl, Fachkonferenz, Lehrveranstaltungen), um erstens die soziale Dimension des wissenschaftlichen Arbeitens und zweitens die Varianz der einzelnen Praktiken aufzuzeigen. Die materielle und körperliche Bedingtheit geisteswissenschaftlicher Arbeit kommt dabei ebenso zur Sprache wie die damit einhergehenden sozialen und epistemischen Normsetzungen.

Bei ihrem „praxeologischen“ Zugang lassen sich Martus und Spoerhase von einer Vielzahl heterogener theoretischer Ansätze inspirieren – etwa von Lorraine Dastons „scientific persona“, Hans-Jörg Rheinbergers „epistemischen Dingen“, der Beziehung von „mind“ und „action“ bei Theodore R. Schatzki, Pierre Bourdieus Handlungs- und Feldtheorie sowie Bruno Latours vernetzten Interaktionen. Das Verständnis von „Geistesarbeit“ bleibt dabei auf die forschungsbezogene Praxis innerhalb der universitären Sphäre beschränkt. Tätigkeitsfelder wie die wissenschaftliche Selbstverwaltung und die Lehre mit Blick auf das ihr zugrundeliegende Bildungsverständnis fallen ebenso wenig darunter wie die Betätigung von Geisteswissenschaftler:innen als Intellektuelle, die das Zeitgeschehen kommentieren, oder die Arbeit in klassischen Bereichen wie Museen und Archiven.

Die Autoren zeichnen den Weg der „‚krummen‘ Praktiken“ (S. 487) geisteswissenschaftlicher Forschung nach, ohne systematisierend oder ordnend vorzugehen. Die Kapitel greifen vielmehr verschiedene Praktiken immer wieder in unterschiedlichen Situationen der sozial-materiellen Arbeitswelt der Forscher auf. So sind etwa die letzten fünf Kapitel dem aussterbenden Format des Sonderdrucks und der „Praxis des biblionomen Gabentauschs“ (S. 426) gewidmet. Diese seit dem 19. Jahrhundert übliche Praxis wird als ein Teil der Wissenschaftskommunikation und sozialen Vernetzung beschrieben; sie besaß für die Geisteswissenschaften länger als für andere Disziplinen Bedeutung. Das Verteilen von Sonderdrucken diente der Aufnahme und Pflege von Kontakten. Die Norm der Reziprozität in diesen exklusiven Netzwerken schaffte kollegiale Verbindlichkeiten und damit die Grundlage für gegenseitige wissenschaftliche Anerkennung. Zugleich bot die individualisierte Ausgestaltung dieser Praxis Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Die häufig recht umfangreichen Sonderdrucksammlungen dienten dabei immer auch als Arbeitsgrundlage, wie die darin zu findenden Annotationen zeigen. In Zeiten des Krieges und des Exils seien Sonderdrucke, so die Autoren, existenziell für die Geistesarbeit gewesen. Mit Anbruch des digitalen Zeitalters fand diese akademische Tradition jedoch ihr Ende. Verantwortlich sei dafür nicht allein die Ersetzung des Sonderdrucks durch ein „pdf“, sondern die „Umstellung von kollegialen auf freundschaftliche Kommunikationsmodi“ (S. 478). Die Bewerbung eigener Publikationen auf Twitter oder anderen Plattformen habe eine geringere „Peinlichkeitsschwelle“ (S. 478).

Bei der Vermessung der sozialen Dimension erscheint die scientific community als Adressat, wenn Szondi schon beim Verfassen eines Vortrags die potenziellen Einwände seiner Kollegen abwägt oder in der direkten Auseinandersetzung bei Tagungen um Deutungshoheiten kämpft. Auch Lehrveranstaltungen wird eine konstitutive Rolle für Forschungs- und Publikationsprojekte zugeschrieben. Vor allem aber interessieren sich Martus und Spoerhase für die vielfältigen Formen des fachlichen Austausches zwischen Kolleg:innen („Gegenlesen“) sowie für das Konglomerat von Zusammen- und Zuarbeit bei Professoren, Mitarbeiter:innen und Doktorand:innen. Am Beispiel Sengles zeigen sie, wie der Ordinarius den erweiterten Lehrstuhl für sein Lebenswerk einspannte. Über Jahrzehnte delegierte er das „Auslesen“ der umfangreichen Forschungsliteratur und der Quellen an Mitarbeiter:innen und Hilfskräfte, die für ihn Exzerpte erstellten. Auch die Vergabe von Promotionsthemen setzte er ganz im Interesse der eigenen Forschung ein. Obwohl die Autoren hervorheben, dass Sengles umfassende Danksagungen und seine abgestuften Formen der Erwähnung von Zuarbeitenden für die damalige Zeit ungewöhnlich gewesen seien, treten die asymmetrischen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen dem „Meister“ und seinen „Schülern“ (S. 47) deutlich zu Tage. Da es sich hierbei zugleich um eine Form der Nachwuchsförderung handelte, habe es daran nur wenig Kritik gegeben. Kollektive Autorenschaften lehnte der konservative Sengle jedenfalls als eine seiner Meinung nach marxistische Erscheinung der DDR-Literaturwissenschaft ab.

Trotz der Vielzahl sozialer Interaktionen gibt es einige Leerstellen, die überwiegend, aber nicht nur, auf die Fallauswahl zurückzuführen sind. Mit Sengle und Szondi kommen gerade die für Geisteswissenschaften typischen Kollaborationen in langfristig angelegten Großprojekten wie Editionen und Lexika nicht in den Blick. Auch die organisierte interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie sie seit Ende der 1960er-Jahre mit der Einrichtung von Sonderforschungsbereichen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft vorangetrieben wurde, liegt jenseits des Fokus dieses Buches. Ebenso wenig thematisiert wird die internationale Dimension des Austausches, die bei Szondi durchaus nachzuverfolgen gewesen wäre. All diese Formen der Zusammenarbeit hätten sich angeboten, um das komplexe Wechselspiel von Kooperation und Konkurrenz auszuloten, das nicht erst seit dem Exzellenzwettbewerb auch die Geisteswissenschaften bestimmt. Die vielfältigen Strategien von wissenschaftlichem „boundary-work“ (Thomas F. Gieryn) bleiben ganz ausgeblendet. Auffallend ist schließlich das Desinteresse an den Geschlechterverhältnissen etwa bei der Aufgabenverteilung und in der Nachwuchsförderung der 1960er-Jahre. Ergänzende Interviews hätten den kaum vorkommenden Frauen ebenso eine Stimme verliehen.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist die Überlieferung zu Szondi und Sengle eine wahre Fundgrube. Martus und Spoerhase verfolgen allerdings keine stringente historische Perspektive. Eher punktuell werden die Beispiele zeitlich kontextualisiert, wenn etwa auf den Wandel des Promotionsstudiums im Zuge der Mitte der 1980er-Jahre eingeführten Graduiertenkollegs hingewiesen wird. Die unterschiedlichen Biografien von Szondi und Sengle bleiben ebenso Randbemerkungen wie das ideologische Klima der Intellektuellendebatten der 1960er-Jahre und dessen Einfluss auf die fachliche Programmatik. Angesichts der wiederholt eingeflochtenen aktuellen Bezüge im Zeichen der Digital Humanities hätte es dem Buch gutgetan, den Wandel der wissenschaftlichen Praxis seit den 1960er-Jahren systematischer zu diskutieren.

Insgesamt ist zu fragen, ob sich die Autoren einen Gefallen getan haben, die von Männern dominierte Welt der Ordinarien der 1960er-Jahre, die hier wie ein Elfenbeinturm erscheint, für ihre apologetisch anmutende Studie der Geisteswissenschaften auszuwählen. Als der Begriff „Geistesarbeit“ in den 1920er-Jahren üblicher wurde, ging es in den öffentlichen Debatten primär um die Not des akademischen Nachwuchses und den Bedarf an Forschungsförderung. Der Soziologe und Nationalökonom Alfred Weber nannte damals „die Inkommensurabilität der geistigen Arbeit mit praktischen Werten und das Ausgerichtetsein dieser Arbeit auf Werte, die keine Meßbarkeit besitzen“, als Problem „einer Zeit, wo die Not das Leben anscheinend auf das Praktische und daher Meßbare einschränkt und zurückführt“.1 Der Druck auf die Wissenschaft, ihre gesellschaftliche Relevanz sichtbar unter Beweis zu stellen, um ihre Finanzierung zu gewährleisten, besteht heute mehr denn je. Während die Natur- und Lebenswissenschaften mit ihrem Innovationsversprechen einen Vertrauensvorschuss genießen, tun sich die Geisteswissenschaften schwer, den von ihnen erwarteten gesellschaftlichen impact zu benennen. Es mag für viele von uns tröstlich sein zu wissen, dass auch Peter Szondi viel Zeit damit verbrachte, beim Schreiben die passendsten Formulierungen zu finden, doch ob diese wissenschaftliche Sorgfalt außerhalb der eigenen geisteswissenschaftlichen Blase Anerkennung findet, ist fraglich. Mit der wissenschaftsimmanenten Perspektive verpassen Martus und Spoerhase die Chance, die ehemalige Wertschätzung der Geisteswissenschaften in Erinnerung zu rufen und die veränderte gesellschaftliche Bedeutungszuschreibung zu diskutieren. Den gestiegenen öffentlichen Erwartungsdruck können die Geisteswissenschaften nicht ignorieren. Krisendiskurse können dabei durchaus mobilisierend im Sinne einer „Zukunftsaneignung“ wirken.2

Anmerkungen:
1 Alfred Weber, Die Not der geistigen Arbeiter, München 1923, S. 7f. (Neuaufl. Berlin 2014).
2 Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008.